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Rapunzel

Nein, lange ist es noch nicht her, es dürfte im Mai gewesen sein, da ging ich morgens spazieren. Na ja, so ein richtiges Spazierengehen war das eigentlich nicht. Ich machte eine Exkursion, eine botanisch-kulinarische, auf der Suche nach Rapunzel. Ja, Rapunzel wächst bei uns einfach so in den Wiesen.
Ich bog gerade um eine Hecke herum, da erschrak ich; denn, von mir aufgescheucht, sprang ein Hase hoch, wollte mir nichts, dir nichts, holterdiepolter, kopfüber davon, verharrte aber plötzlich, fixierte mich und sprach mich an:
„Sie habe ich doch schon des Öfteren hier gesehen. Nahrungskonkurrenz sozusagen.“
Er musterte mich von oben bis unten und stellte fest:
„Sie sind ja ganz ähnlich angezogen wie ich, Zufall?“
Ich blickte an mir hinab: Meine grüne Joppe hing salopp über der braunen, etwas ausgebeulten Hose. Im Gegensatz zu ihm hatte ich aber Strümpfe und Schuhe an.
„Kenne ich Sie nicht bereits von - von irgendwoher?“, fragte ich vorsichtig, „Sie mit ihrer grünen Joppe und braunen Hose gibt es möglicherweise an einer dunklen Stelle meines Gedächtnisses längst schon.“
„Das mag schon sein“, war die zögerliche Antwort, „ich bin, um ehrlich zu sein, einem Märchenbuch entsprungen.“
„Ja, ja“, beeilte ich mich, „ Sie sind der Hase von dem Igel, nicht wahr?“
Geschmeichelt kam die Antwort:
„Sie haben Recht. Danke, dass Sie mich erkannt haben, obwohl ich es anders formuliert hätte: es gibt da gewisse Igel, an die man sich nur meinetwegen erinnert. Sie sind allerdings out.“
„Out?“
„Sehen Sie, früher, wenn ich die Furchen der Äcker entlang sprintete, stand an deren Ende immer ein Igel und begrüßte mich hämisch.“
„Und jetzt?“
„Und jetzt, seit die Bauern fürs Streuobstpflanzen Prämien bezahlt bekommen, stehen da immer ziemlich frisch gepflanzte Bäume. In allen Fluren, an allen Ackerrändern, auf allen Wiesen, habe ich den Eindruck. Aber genau genommen ist es immer derselbe Baum, wie ich auch renne, wohin ich auch renne, immer derselbe Baum. Zwar trägt er jedes Mal ein anderes Etikett, aber beim genauen Hinsehen - klick, klick, klick -“, er klapperte mit den Augendeckeln, „beim genauen Hinsehen entdecke ich immer wieder, dass es wirklich genau derselbe Baum ist.“
Ich zweifelte an seinen Sehfähigkeiten und noch mehr an seiner Fähigkeit, das Gesehene mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, ließ mich aber dennoch auf seine Sicht der Dinge ein.
„Und dieser Baum ist Ihnen lästig?“, fragte ich lächelnd.
„Ja, sehr!“, antwortete er in ernstem Ton, „denn erstens steht er im Weg und zweitens weiß ich mich nicht dagegen zu wehren. Ich als Hase könnte bestenfalls die Rinde annagen, doch um den Stamm herum windet sich ein Kunststoffschutz. Zudem hat irgendwer den ganzen Baum vergällt, mit irgendeinem bitteren Zeug übersprüht. Und dieses Zeug haftet an dem Baum und haftet und haftet. Und ...", er machte eine wirkungsvolle Kunstpause, „und dieser Baum beschattet die Wuchsstellen des von uns beiden hochgeschätzten Rapunzelsalates.“
Der Hase hatte Recht. Der Hase tat mir leid. Was war ihm da zu raten?
Gott sei Dank kam mir ein Erlebnis auf dem Peloponnes in den Sinn. Hatte ich da nicht, als ich mich mit einem gewissen Drang in die Büsche geschlagen hatte, einem über und über mit Kupfervitriol übersprühten Apfelbaum durch eine auch mich entlastende Tat zur ursprünglichen Rindenfarbe zurückverholfen? Natürlich nicht dem ganzen Baum bis in die Krone - wer könnte das -, aber doch zumindest im unteren Bereich seines Stammes wurde das Kupfervitriol abgewaschen.
„Hören Sie“, sagte ich voller Zuversicht, „heute am Nachmittag komme ich noch einmal hierher. Wenn Sie auch da sind, werde ich Ihnen meinen Freund Kay vorstellen. Sie müssen keine Angst vor ihm haben. Er spielt gern mit einem Zierhasen auf dem Zierrasen meines Nachbarn, ganz harmlos. Er gehört meinem Nachbarn. Er ist ein Neufundländer, ein zugegebenermaßen riesiger Neufundländer. Er wird Sie trainieren, es ihm gleichzutun. Er ist Spezialist im Bäumevernichten. Im Garten meines Nachbarn hat er schon eine Eibe, eine Scheinquitte und eine Serbische Fichte beseitigt, ganz ohne große Mühe, nur durch das Heben eines Beines, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da bedarf es keinerlei Rindenbeknabberns mehr.“
Der Hase zweifelte noch ein bisschen daran herum, erlag dann aber meiner Überzeugungskraft und stimmte zu.
Alles Weitere brauche ich nun nicht mehr eingehend zu schildern.
Nach einiger Zeit beherrschten er und alle Hasen und Häsinnen der Umgebung die Neufundländertechnik bestens. Meine Frau hatte dem Grünbejoppten dafür extra einen Reißverschluss in die Hose genäht.
Nun mag vielleicht der eine oder andere aus der ganzen Angelegenheit schließen, dass ich etwas gegen Bäume habe. Ich kann versichern, dass dem so nicht ist. Ich liebe Bäume.
Dennoch: diesem armen, von Bäumen gehetzten Hasen musste ich doch beistehen, oder?


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