Termessos

Nein, nicht auf des Tempels Stufen wie Sokrates, sondern wie einer aus dem niederen Volk, saß ich auf den billigeren Rängen des Theaters von Termessos, halb liegend, fast hingestreckt, hoch oben im Gebirge mit grandiosem Blick hinab auf den Golf von Antalya und bis in die dunstige Weite des blinkenden Mittelmeeres.
Ein zeitloses Gefühl stellte sich ein, und ich wäre möglicherweise eingenickt, hätte sich nicht eine dreifarbige Ruinenkatze mit orangenen und weißen Flecken auf dem überwiegend schwarzen Fell hoch erhobenen Schwanzes genähert, eher beiläufig wirkend, absichtslos, ihren kleinen Interessen folgend.
So dachte ich jedenfalls.
Ich hatte mich inzwischen hochgereckt, und die schlanke, gleichwohl gepflegt aussehende und gut genährte Katze streifte meinen Rücken, schlüpfte unter meinem linken Arm hindurch, querte meinen Schoß und ließ sich auf meinem rechten Oberschenkel nieder. Lässig baumelte ihr rechtes Vorderbein hinab. Wie eine laszive Sphinx blickte sie mit mir nach vorne in die Weite der Landschaft und schnurrte. Sie hatte von mir Besitz ergriffen.
„Merhaba, geliebte Katze, reich mir deine sanfte Tatze“, reimte ich mit kindlichem Gemüt.
Und da, lieber Leser, halten Sie sich fest, vernahm ich eindeutig von ihr - weit und breit war niemand sonst zu sehen außer ihr und mir - vernahm ich von ihr in reinstem Hochdeutsch:
„Mein guter Herr, wie sollte ich Pfötchen geben, bin ich doch kein Hund, sondern eine Katze, auch keineswegs ein zu albernen Späßen aufgelegter Kater, sondern eine, wie Sie vielleicht bemerkt haben, selbstbewusste und ernsthaft denkende Kätzin.“
Sie hatte mir ihr Gesicht während ihrer Rede keineswegs zugewandt, eher demonstrativ hinabgeblickt nach Antalya.
Ehrlich gesagt schluckte ich doch vernehmlich mit einem überraschten Glucksen, fing mich aber - Gott sei Dank - und schickte mich an, das Beste aus dieser Situation zu machen.
„Wenn ich schon“, begann ich zögernd, „die Möglichkeit habe, nun einmal mit einer veritablen Kätzin zu sprechen, möchte ich das doch gerne wahrnehmen und Ihnen, meine liebe Schnurrerin, ein paar Fragen stellen.“
„Schießen Sie los“, es stellten sich ihr eine wenig die Nackenhaare, „natürlich nur in einem übertragenen Sinn.“
Ich glättete ihr streichelnd das Fell und kraulte sie mit der Linken ein wenig unterm Kinn. Wohlig überließ sie sich meinen Fingern und begann wieder zu schnurren, womit sie aufgehört hatte, als sie vom Losschießen gesprochen hatte.
„Also“, nahm ich mir ein Herz, „wie kommt es, dass Sie als türkische Katze ein so gutes Deutsch sprechen?“
„Sie irren“, war ihre Antwort, „wenn Sie mich für eine Türkin halten. Ich stamme aus Hannover und bin dort bei einem liebenswerten deutschen Ehepaar aufgewachsen. Mit besten Papieren kam ich mit diesen Leuten vor zwei Jahren in die Nähe Antalyas, wo meine Herrschaften den Winter zu verbringen geplant hatten.
Nicht lange hielt es mich in meinem neuen Domizil; denn eines Tages, als niemand damit gerechnet hatte, auch ich nicht, muss ich gestehen, war ich Hals über Kopf entwischt und mit einem türkischen Kater auf und davon gegangen.
Und wie das nun mal so ist, konnte ich ihn bald nicht mehr ertragen, habe ihn verlassen und mich nach einigen Zwischenstationen hier niedergelassen, wohin mich eine deutsche Realschullehrerin von etwa vierundvierzig Jahren in einer Basttasche nationalchinesischen Fabrikates verschleppt hatte, in der Sorge, ich könne ihr drunten in einem von Deutschen und Russen frequentierten Feriendorf während ihrer Kulturfahrt nach Termessos enteilen oder gar von Russen eingefangen und verspeist werden. Sie hatte mich Tage vorher in einem der kleinen Bergdörfer des Olymposnationalparkes aufgelesen, mir tierärztliche Zuwendung verschafft, schließlich sogar die nötigen Papiere für einen Rückflug nach Deutschland besorgt, mit denen ich problemlos dort hätte einreisen dürfen. Doch der treffliche Weitblick von hier oben hatte mich derart fasziniert, dass ich nach einem kleinen Katzengeschäft unter den Büschen dort drüben nicht zu meiner Wohltäterin zurückkehrte, sondern mich trotz ihres verzweifelten Rufens versteckt hielt, bis die Dämmerung sie zwang, hinabzusteigen und mich zurück zu lassen.
Ich fing mir noch rasch eine Agame als Abendbrot, setzte mich dann hier, wo sie jetzt ruhen, in Positur,  besang den Mond, um den die Fledermäuse flatterten, mit einigen langgezogenen, musikalischen Miaus und so bin ich nun hier - seit geraumer Zeit.“

*

„Seit geraumer Zeit, also doch wohl mindestens seit etlichen Tagen“, wandte ich ein, „kann man sich da von Agamen ernähren?“
Dass ich überhaupt nicht wusste, was eine Agame ist, wollte ich freilich nicht eingestehen.
„Diese Agamen“, nahm meine neue Freundin das Wort, „werden ja von den meisten Touristen für Eidechsen gehalten. Aber wer genau hinsieht, bemerkt ihre bizarre Gestalt und ihr arttypisches Kopfnicken, eine ziemlich dumme Angewohnheit dieser Tiere. Sie wollen einem damit imponieren.
Mein türkischer Katerfreund hatte mir einmal theoretisch erläutert und dann auch gleich praktisch vorgemacht, wie man solche Agamen fängt. Ich werde es Ihnen darlegen.“
„Danke“, wehrte ich lachend ab, „derlei Grausamkeiten türkischer Halbstarker interessieren mich herzlich wenig!“
„Nun, nun, seien Sie kein Ignorant, mein lieber Freund, auch Sie waren mal jung, oder?“
Wenn mich etwas ärgern konnte, dann diese plumpen Anspielungen auf mein Alter. Trotzig verstummte ich.
„Sie schweigen, mein Herr, in betretener Manier? Wohl nicht das erste Mal, oder?“
Meine Finger hatten schon aufgehört, das Kinn dieser taktlosen Kätzin zu kraulen, bevor mir klar geworden war, dass ich ziemlich verärgert war, echt sauer, wie diese junge Katzengöre es wohl ausgedrückt hätte. Und sie begann wirklich ihre Fangmethoden zu beschreiben.
„Es ist ganz einfach: man setzt sich dort hin, wo diese Agamen ihre vertrauten Sonnensteine haben, wo sie sich ganz platt machen, um Wärme zu tanken.
Wenn nun so ein dickes Agamenmännchen - der kleinen Weibchen wegen lohnt die Jagd ja nicht - aus seinem Versteck herauskriecht und seinen Platz von mir unbeweglich sitzender Kätzin besetzt findet, verharrt es zunächst starr und wundert sich, dass ihm wie einst diesem alten Griechen die Sonne verdeckt worden ist, und will nun sagen: ‚Geh mir aus der Sonne.’
Doch da es nicht sprechen kann, ja nicht einmal bellen, geschweige denn miauen, nickt es mit dem Kopf, um mich zu verscheuchen.
‚Da nun’, instruierte mich mein Kater, ‚darfst du mit keiner Faser deines Körpers reagieren. Die Agame wird ein zweites Mal nicken und schließlich überzeugt sein, dass keine Gefahr herrscht. Das dritte Nicken gilt dann schon nicht mehr dir. Es ist reinstes Imponiergehabe, gerichtet an die Agamenweibchen in der weiten Runde, von denen das Männchen, überzeugt wie es von sich ist, annimmt, sie hätten es die ganze Zeit beobachtet. Und es nickt nach rechts, es nickt nach links und äugt hinüber und herüber, ändert balzend seine Körperfarbe und vergisst dich vollkommen. Das ist der Moment, in dem du vorspringst, den tölpelhaften Kerl im Genick fasst und zubeißt. So einfach ist das.’ „
„Na, Mahlzeit, Sie Barbarin“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, fügte aber pädagogisch denkend hinzu, dass ich, als Nichtkater sozusagen, mit den Verwandten der Agamen, den Eidechsen viel menschlicher umgehen würde.
„Reine Angabe“, beschied mich die Kätzin, „was können Sie alter Herr schon mit den flinken Eidechsen erlebt haben?“

*

„Oh“, rief ich triumphierend, „da werden Sie sich aber wundern!“
Und mit großer Genugtuung begann ich zu erzählen:
„Früher, als ich viel in Italien gereist bin, wie jetzt hier in Termessos in den Ruinen herumgeklettert bin, habe ich mir oft genug mit einer aus einem langen Pfeifengras gemachten Schlinge eine Eidechse gefangen und gezähmt. Eidechsen sind sehr schnell zutraulich, werden von mir in so einem Falle mit Insekten und Würmern gefüttert und fühlen sich dabei sichtlich wohl.
So war es im Falle einer Smaragdeidechse von etwa dreißig Zentimetern Körperlänge in Paestum, südlich von Neapel.
Ich lagerte an Ostern auf eines Tempels Stufen. Meine Eidechse sonnte sich genüsslich, wobei sie sich auf meine Pulloverbrust schmiegte. Da kam eine nette ältere Deutsche vorbei, abgesprengt von einer Gruppe eines - sagen wir mal - deutschen Gartenbauvereines, schaute fasziniert mein Tierchen an und meinte allen Ernstes:
‚Eine schöne Brosche haben Sie da. Wo kriegt man denn so etwas zu kaufen?’
Na, da hätte sie ein schönes Mitbringsel erstanden.
Meine Brosche wendete in dem Moment den Kopf nach links und den Schwanz nach rechts. Die nette Dame griff sich in die Perücke und rannte panikartig schreiend davon.“
„Und wie schmeckte dann schließlich die Eidechse?“, fragte die Kätzin und holte mich damit wieder auf den Boden ihrer rauen Wirklichkeit zurück.
„Haben Sie das gehört?“
Was sollte ich gehört haben in der Stille des Theaters?
Ich strengte meine Ohren gewaltig an.
„Meinen Sie den zaghaften Gesang des Rotkehlchens oder das leise Wispern des Laubes? Oder meinen Sie in paradoxer Absicht ganz einfach die ungeheure Stille ringsumher?“
„Ach, Quatsch, warten Sie ein kleines Weilchen und Sie werden es selbst hören.“
Und tatsächlich: es dauerte kaum mehr zwei, drei Minuten, da hörte auch ich das Gekicher junger Mädchen und das Geschrei junger Burschen und die mahnenden Worte erwachsener Personen, und sie kamen dahergestürmt, die Jungen behände, die Alten mühsam über die Steine kletternd, und sie hatten in kürzester Zeit das Theater okkupiert: eine Schulklasse mit einem Lehrer und einer Lehrerin.
Die gelassene Haltung meiner dreifarbigen Kätzin war dahin. Stocksteif war sie geworden, fuhr ihr Krallen aus und trieb schonungslos diese spitzen Dolche in das Fleisch meines Oberschenkels, dass ich fast aufschrie, hätte ich mich dessen vor so viel Publikum nicht geschämt. So brachte ich es nur zu einem verdrückten Stöhnen, das verdächtig einem angedeuteten „Miau“ glich.
Und es gab ein Rennen und Springen, ein Rufen und Antworten und ein verzweifeltes Lehrerpaar, das für Ordnung sorgen wollte und es schließlich sogar dahin gebracht hatte, dass die vielköpfige, uniform gekleidete Schar sich in der Runde gesetzt hatte bis auf einen der Burschen, der unten auf der Szene stand, die Arme ausbreitete, den Kopf in den Nacken warf  und zu meinem großen Erstaunen auf Deutsch loslegte, ja, ja auf Deutsch, auch wenn es ein türkisch anmutendes war mit dem wie „rsch“ klingenden „r“:
„Vom Eise befrscheit sind Schtrschöme und Bäche ...“
Rezitierte dieser von mir auf siebzehn, achtzehn Jahre geschätzte türkische Junge doch tatsächlich Fausts Osterspaziergang, und in der weiten Runde des Theaters von Termessos wurde es still, die bewegte Schar war zur Ruhe gekommen und lauschte atemlos den hymnischen Worten dieses jungen Burschen, in den sich Platen sofort verliebt hätte, und über den Heine seinen feinen Spott ausgegossen hätte wie über alles, was ihm nahe ging.
Und ich entspannte mich und träumte mich hinaus über die ruinösen Mauern des uralten Bühnengebäudes in ein Griechenland, das nur im Kopf eines Deutschen existieren konnte.
„So ein eitler Fatzke“, murmelte da kaum vernehmlich meine Kätzin, sträubte ihre Nackenhaare und krallte sich noch tiefer in meinen Oberschenkel hinein.
Schon zerstob das Bild idyllischer Ruhe, das Geschrei begann wieder und schaukelte sich hoch zum Gebrüll.
Der Lehrer eilte auf mich zu und redete hastig auf mich ein:
„Entschuldigen Sie, mein Herr, die Kinder sind etwas übermütig. Wir kommen von einem Anadolu Lisesi, einem Gymnasium, auf dem wir in der Oberstufe nur auf Deutsch unterrichten. Wir sind hier, um nachzuspüren, was wir im Deutschunterricht miteinander besprochen haben: dass die Deutschen hierher kommen, Griechenland mit der Seele zu suchen, falls Sie verstehen, was ich meine. Ich bin der Deutschlehrer.“
„Hello, don‘t understand you, sorry, old boy“, log ich daher, unfähig, jetzt ein Gespräch zu führen.
Meine dreifarbige Freundin zog die Krallen ein, ihre Nackenhaare glätteten sich, als der enttäuschte Lehrer von dannen zog, wieder hinunter kletterte in Richtung auf die Ruinen des alten Gymnasions, gefolgt von der Schülerschar und der stumm auf meine Kätzin glotzenden  Lehrerin.
„Das wäre ja noch schöner“, zischelte die Dreifarbige, „wenn uns ausgerechnet ein Türke erzählte, was deutsche Kultur ist.“ Und sie begann in einer seltsamen Mischung von Zufriedenheit und Überheblichkeit ein sonores Geschnurre, das ernst zu nehmen mir äußerst schwer fiel.

*

Unterdessen war an einigen Stellen meiner Jeans das Blut durchgedrungen und hatte kleine dunkelrote Flecken gebildet. Die Krallen meiner Kätzin waren tief eingedrungen. Es tat zwar nicht mehr weh, aber ich wusste, dass mich eine Auseinandersetzung mit meiner Frau erwartete, die nie begeistert darüber war, wie ich meine Kleidung behandelte.
So etwas meiner Kätzin zu erläutern, kam mir nicht in den Sinn. Nur ein paar kleine Rachegedanken kamen auf, zumal sie jetzt versuchte, die Blutflecken mit ihren sammetweichen Pfoten abzudecken. Wie nur konnte ich ihr gefahrlos klar machen, dass ich blutig endende Handgreiflichkeiten nicht mochte, ja sogar richtiggehend verabscheute?
Da kam mir ihre Anspielung auf die deutsche Kultur gerade recht.
„Sie sprachen vorhin“, sagte ich leichthin, „Sie sprachen von der deutschen Kultur so, als seien Sie deren Vertreter oder Verteidiger. Gehe ich Recht in der Annahme, dass auch Sie eine deutsche Kultur ohne Gewalt und Unrecht, ohne Vorurteile und Diffamierungen meinen? Und doch sprachen Sie in einem überheblichen Ton über die Türken, deren Gast Sie ja schließlich seit geraumer Zeit - wie Sie sich auszudrücken beliebten - sind. Wie passt das zu dem Ausfahren Ihrer dolchartigen Krallen, zum leichtfertigen Verletzen meines Oberschenkels und zu Ihrem Versuch, die Folgen Ihrer Aggression zu vertuschen?“
„Sie brauchen mich nicht zu belehren, mein Herr. In der Familie meiner Hannoverischen Herrschaft hatte ich genügend Zeit, mir die deutsche Kultur zu eigen zu machen, zumal, nachdem ich gelernt hatte, Bücher aus dem Regal zu schmeißen und die zufällig aufgeschlagenen Seiten zu lesen. Zunächst waren die Buchstaben nur missgestaltete Insektenpartikel für mich, doch mit der Zeit erkannte ich, dass diese Zeichen Abbilder der menschlichen Sprache waren.
Kurz und gut, ich lernte in schnellstem Affenzahn das Lesen und betankte mein Katzengehirn mit Sentenzen der erhabensten literarischen Werke von Simmel bis Kant und von Nietzsche bis Konsalik, ja ich brachte es durch die Übertragung meiner Erfahrungen mit dem vierpfötigen Beschreiten der Klaviertastatatur dazu, zunächst zwar nur eine Schreibmaschine, doch schließlich sogar einen PC über die Tastatur zu bedienen und vielfältigste literarische Versuche aufzuzeichnen und zu speichern. Mit der lächerlicherweise Maus genannten Klickklick-Apparatur dagegen konnte ich mich nicht anfreunden. Immer, wenn ich sie nach Katzenart spielerisch durch die Luft wirbelte, hatte das verheerende Wirkungen auf meine Schreibergebnisse, sodass ich beschloss, diese Art von Mäusen einfach zu negieren.“
„Aha“, rief ich aus, „da gestehen Sie gerade selbst, dass Sie ein Ignorant sind, dass Sie unfähig sind, sich auf Mäuse unbekannter Art einzustellen und dass Sie einfach inhuman sind und bleiben.“
„Gemach, mein lieber Herr, mit dieser Meinung sind Sie auf dem Holzweg. Ich werde es Ihnen beweisen:
Als ich unten in der Urlaubswelt am Meer lebte, hatte ich ausreichend Gelegenheit, mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten umzugehen. Mir war es freilich egal, wer mir bei meinen Besuchen und meinem späteren Wohnaufenthalt in einem Feriendorf verbotenerweise etwas zum Fressen vom Abendbuffet klaute, wenn es nur meinem exquisiten Geschmack entsprach.
Allerdings fand ich nach einiger Zeit heraus, dass sich die Vertreter der einzelnen Nationen dadurch voneinander abhoben, dass sie recht unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was einer Katze besonders gut schmeckt.
Die Deutschen, in ihrer über Jahrhunderte tradierten irrigen Meinung, Milch sei gesund für Katzen, traktierten mich mit sterilisierter Büchsenmilch.
Die Engländer, in ihrem Wahn, aller Welt zu beweisen, dass BSE eine Erfindung der Festlandseuropäer sei, legten mir dünne Streifen feinster Rindslende vor.
Die Russen gossen ihren üblen Wodka über das fette Hammelfleisch, das sie mir ausgesucht hatten.
Nicht, dass Sie denken, ich würde nun von diesen Erlebnissen her Vorurteile gegen diese Ethnien entwickelt haben. Nein, denn dann müsste ich ja im Umkehrschluss die Schweden nur deshalb lieben, weil mir das einzige schwedische Ehepaar in meinem Feriendorf herrlichen Lachs servierte. Dabei kann ich gerade die Schweden wegen ihrer Gardinen nicht ausstehen.
Und es gab schließlich auch Ausnahmen!
Gott sei Dank gab es einen russischen Opa mit einem Hang zu Fleischpasteten und eine kleine Deutsche mit einem Hang zu Pirzola, den von mir sehr geschätzten Lammkoteletts.
Dieses nette Mädchen hatte ich ursprünglich für eine Türkin gehalten. Es hatte ein echt orientalisches Aussehen und ich wähnte schon, es habe einen zigeunerischen Einschlag oder zumindest einen indischen, da wurde ich eines Besseren belehrt.
Gerade, als sie mir am Ende eines Gartenweges, verborgen vor den Blicken der übrigen Feriengäste die Pirzola mit einem Messer vom Knochen löste, wurde sie von einer Frau in eindeutig gutem Deutsch gerufen. Ich merkte, dass der Ruf ihr galt; denn sie duckte sich tief in den Schatten eines Orangenbaumes, als sie die Stimme der Frau vernahm.
‚Ja, ja, Mama‘, murmelte sie vor sich hin, ‚geh ruhig wieder schnäpseln an die Bar!‘
Und zu mir gerichtet ergänzte sie: ‚Sie fliegt auf diese blöden russischen Dollartypen, die blöde Tussi.‘
Ich schnurrte beruhigend und bekam das Lammfleisch mundgerecht gereicht. Während ich die Brocken hastig hinunterschlang, was bei uns Katzen gang und gäbe ist, machte ich mir klar, dass dieses exotische, dunkelhaarige Geschöpf eine Deutsche war und gleichsam die Multikultirasse der zukünftigen deutschen Entwicklung vorausahnen ließ.“
„Und die Türken“, unterbrach ich etwas pikiert ob dieses Multikultigedankens die Kätzin, „was kredenzten Ihnen die Türken? Sorgten sie nicht in besonderem Maße für Ihr Wohlbefinden? Machten sie nicht, dass Sie wie der Imam in Ohnmacht fielen oder sich an Frauennabeln delektierten?“

*

 „Die Türken, mein Herr?“
Meine Freundin machte eine wegwerfende Geste mit der rechten Vorderpfote.
„Die Türken benahmen sich wie die Berserker. Ein Vorkommnis mag genügen, Ihnen das sinnfällig zu machen:
Damit Sie das richtig verstehen, müssen wir uns aber erst noch einmal vor Augen führen, wie ich in dieses Feriendorf gelangt bin.
Meine Hannoveraner hatten mich in das nebenan liegende All-inclusive-Hotel mitgebracht, in dem sie die Wintermonate zubringen wollten. Ich war meist eingesperrt und wurde eigentlich nur für meine dringenden Geschäfte in die raue türkische Wirklichkeit hinausgelassen.
Eines Tages, als ich meine Hinterlassenschaften unter einem Rosmarinstrauch einscharrte, roch ich durch die beiden anstehenden Gerüche hindurch den herben Duft eines Katers. Dem mich zu entziehen gelang mir nicht und ich schlich mich entlang der Duftmarken bis in das Feriendorf, das offensichtlich sein Revier darstellte.
An diesem Tage dominierte meine Wohlerzogenheit noch. Ich konnte mich, da ich den Kater nicht gleich vorfand, aus diesem Bannkreis lösen und zurückspringen zu meinen Hannoveranern, die voll banger Erwartung nach mir riefen und riefen und überglücklich waren, als ich zurückkehrte.
Von da an war es mit meiner Ruhe dahin.
Vor allem deshalb, weil besagter Kater offensichtlich meinen auf dem Pfad zu ihm vorsorglich hinterlassenen Duftmarken bis vor unseren Balkon gefolgt war und seither nächtens seine liebestollen Gesänge erschallen ließ.
Ach, noch heute werde ich schwach, wenn ich nur daran denke.
Und was er alles sang:
vom Mond, von Katzenminze und der ungestillten Sehnsucht der Katzen nach ewigem Leben.
Meinen Hannoveranern gefiel das weniger. Sie versuchten, den Störenfried - so nannten sie ihn tatsächlich - zu verscheuchen, was ihnen auch dann nicht gelang, als sie sich mit anderen Hotelgästen verbündeten, um zu ihrer - wie sie meinten - verdienten Nachtruhe zu kommen.
Erst saftige Bakschischgaben aus ihren dicken Geldbeuteln an die Security des Hotels machten es möglich, meinen Minnesänger zu vertreiben.“
„Womit wir endlich bei den Grausamkeiten der Türken angekommen wären“, konstatierte ich, „legen Sie schon los, ich bin gespannt, was daran türkisch sein soll.“
„Wenn Sie das von vornherein ironisch in Zweifel ziehen, mein Herr“, maunzte meine Freundin beleidigt, „brauche ich ja gar nicht weiterzuerzählen. Als ob Sie als Deutscher nicht sowieso meinten, Türken seien grausam veranlagt, womit Sie sich in guter Gesellschaft befinden. In meinen einsamen Hannoverschen Lesestunden bin ich über Luthers Ansichten auf dieses Thema gestoßen, zum Beispiel.“
Ich konnte mich nicht enthalten laut aufzulachen. Was sollte eine dreifarbige, deutsche Kätzin davon schon wissen.
„Luther“, klärte ich sie auf, „hatte die Hoffnung, die Türken würden mit dem Papsttum aufräumen, ohne dass sich die protestantischen Fürsten die Hände dreckig machen müssten.“
„Eben“, entgegnete die Kätzin, „eben dafür war ihm die Grausamkeit der Türken gerade recht. Er hatte davon gelesen und gehört und war sehr zuversichtlich, dass es die Türken für ihn richten würden. Das entnahm ich jedenfalls dem Lexikon der Theologie, dessen vierzehnten Band ich aus dem Regal befördert hatte. Der zufällig aufgeschlagene Artikel über Luthers drucktechnisch verbreitete Pamphlete offenbarte mir das.“
„Mag ja sein“, lenkte ich ein, „dass Luther weitertradierte, was die ollen Kreuzzugritter in pervers kolportierten Geschichten über die Mohammedaner mitgebracht hatten. Aber was soll das. Es ist historisch. Was wühlen wir da in der Vergangenheit. Heute haben wir Deutschen ein ganz anderes Bild von den Türken.“
„Sind Sie sich dessen so sicher, mein Herr?“, kam die prompte Gegenfrage, die mich, ich gebe es zu, etwas aus der Fassung brachte.
Lange grübelte ich über eine passende Antwort nach und richtete dabei meinen Blick in die Runde des Theaters von Termessos. Beinahe hatte ich vergessen, dass ich hier saß - von der Kätzin in ihren Bann gezogen und ganz auf das Gespräch mit ihr fixiert.
Während ich überlegte, beobachtete ich die wenigen Touristen, die sich inzwischen bis zu diesem Theater heraufgequält hatten. Was mochte in den Gehirnen dieser Leute vorgehen, was mochten die Deutschen unter ihnen für Gedanken hegen. Vielleicht kam ich auf diesem Weg zu einer klugen Antwort auf die provokante Frage meiner Freundin.
Mir gegenüber beispielsweise lag hingegossen ein offensichtlich deutscher Jüngling. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich ihn schon beachtet hatte, als er das Theater betreten hatte. Er huldigte der Hosenmode, die mich immer daran erinnerte, wie mir einst als Kleinkind ein schreckliches Malheur passiert war und sich der Hosenboden meiner Hose bedenklich nach unten ausgebeult hatte. Was mochte im Hirn dieses Jünglings vor sich gehen? Welches Bild der Türken mochte es bergen? Oder hatte er sich lediglich ein Bild von Türkinnen gemacht? Hatte er höhere Gedanken als die, die bis an die Unterkante des Minirockes des türkischen Mädchens reichten, das sich an die Wand der Szene geschmiegt hatte und gedankenverloren zu meiner Kätzin herauf schaute, beobachtet von ihrem Vater, der nervös in die Runde blickte, um sicher zu sein, jede unpassende Annäherung an seine Tochter wirksam im Keim ersticken zu können?
Da war nichts Taugliches zu holen, und ich wendete mich dem deutschen, mittelalterlichen Urlauberpaar zu, das sich anschickte, seine Vesperbrote auszupacken. Sie hatte ein leichtes Kleid an, dessen Stoff im Gegenlicht der strahlenden Sonne die Körperkonturen erkennen ließ. Erstaunlich schlanke Beine trugen den eher gut gepolsterten Body. Ein kokettes Sonnenhütchen über dem rosigen, doppelkinngeschmückten Gesicht bildete den I-Punkt deutschen Geschmackes.
Er, in seinem Buschhemd und den ausgebeulten Shorts, kaute schon an einem der belegten Brote aus dem Lunchpaket. Ich musste schmunzeln. Auf seinen Oberschenkeln hätte meine Kätzin keinen Platz gefunden. Da saß bereits ein dicker Bauch, der sich an den Hosenträgern vorbei nach vorne gedrängt hatte und viel über den ungebremsten Hunger und Durst dieses Mannes, aber höchstwahrscheinlich nichts über seine Gedanken verriet. Ob er sich schon einmal ernsthaft Gedanken über die Türken gemacht hatte? Ob er sich überhaupt schon einmal Gedanken gemacht hatte, eigene Gedanken?
Ich musste einsehen, dass ich bei diesen Leuten keine Antwort auf die Frage meiner Kätzin finden konnte. Wohl oder übel musste ich zu einer eigenen Antwort gelangen. Ich sinnierte.
Ich sinnierte lange, schon alleine deshalb, weil ich erst wieder zu meiner Kätzin sprechen wollte, wenn wir alleine waren. Was würden denn sonst die Leute sagen, wenn sie beobachteten, dass ich auf das Tier auf meinem Schoß einredete. Da würde sich ja sogar der Dickbauch was denken, und zwar nichts Schmeichelhaftes.
Also ich sinnierte.
Sollte ich die ganze Sache vielleicht ins Lächerliche ziehen und behaupten, die Deutschen hielten die Türken entgegen meinen vorherigen Versicherungen für alte Krummsäbelschwinger, die sich zum Frühstück gerne ein Christenbaby aufschlitzen?
Das verwarf ich als untauglich. Diese inzwischen wieder schnurrende Bartträgerin erwartete schließlich eine seriöse Meinung.
Da kam mir der Zufall zu Hilfe; denn es betrat ein - wie mir deuchte - deutscher Studiendirektor mit Frau, Tochter und Sohn im Schlepptau die Bühne.
Meine Schnurrerin verstummte, und mein Brainstorming setzte aus, als dieser gebildete Mann in wohlgesetzten Worten anhub:
„Hier sind wir, dort ist Süden, hinter uns Norden. Junge, halte die Karte richtig! Und wo ist demnach Deutschland?“
Der arme Halbwüchsige zuckte mit den Achseln und machte eine hilflose Geste mit der Wanderkarte.
„Da drüben, über dem Kopf  des dicken Mannes vielleicht“, versuchte er sich.
„Aber, aber, da kommst du ja nach Palästina! Nein, nein, wenn du dich umdrehst und genau diesen hell schimmernden Mauerrest dort hinten anpeilst, liegst du richtig. Die Karte ist schließlich genordet, mein Lieber!“
Die Tochter hatte inzwischen ihre Augen auf den lasziv daliegenden Jüngling, diesen Pan mit den ausgebeulten Hosen, gerichtet und machte sich nun auf, sich in seine Richtung zu bewegen. Die Mutter warf den prallen Rucksack beiseite, setzte sich und reckte das Antlitz mit geschlossenen Augen in die Sonne.
Ihr Hirn hatte nach einem raschen Rundblick die Szene abgehakt, hatte man sich mit Termessos doch schon wochenlang zu Hause beschäftigen müssen. Es existierte also auch außerhalb der Kunst- und Wanderführer. Abgehakt!
„Sehen Sie“, tuschelte meine Freundin kaum verständlich, „schon guckt der Bursche dem Mädchen unter den Rock. Wie die da an ihm vorbeischlendert! Und der Vater kriegt nichts davon mit. Er zerrt den Sohn treppauf, treppab durch das Theater. Und die Mutter! Lächerlich, mit welch untauglicher Methode sie die Falten in ihrem Gesicht bekämpfen will, als ob die Sonne die tiefen Furchen nicht unheilvoll vertiefte!“
„Pssst“, musste ich meine Freundin warnen; denn Vater und Sohn kamen geradewegs auf uns zu.
Während der Vater dozierend auf seinen Sohn einschwätzte, äugte dieser fasziniert zu dem jungen Türkenmädchen hinüber, das sich gerade die Haarpracht locker schüttelte.
Ein Voyeur wollte ich nicht sein und blickte großzügig über dieses weltliche Getümmel der Jungen und Alten hinweg und versuchte, mich in der Ferne zu verlieren. So kam ich ins Träumen, und als meine Kätzin wieder zu schnurren anfing, war ich schon nicht mehr in unserer, sondern um Jahrhunderte vor unserer Zeit.
Dass mein Tagtraum den Erklärungen des deutschen Studiendirektors folgte, der sich nicht weit von mir dozierend hingesetzt hatte, war mir keinesfalls bewusst. Vielleicht gab dieser Mann ja auch nur die Stichwörter; denn wie sollte sich von den Sätzen eines eifernden Studiendirektors ableiten lassen, was ich überdeutlich vor mir sah.

*

Sie kam genau auf mich zu, setzte sich an meine linke Seite, kraulte meine Freundin mit der rechten Hand im Nacken und legte die linke vertraulich auf meinen linken Oberschenkel.
Langsam, ganz langsam wandte ich ihr mein Antlitz zu. Ihr Blick traf mich bis ins innerste Mark, und ich erschauerte, als sie gurrend sagte:
„Oh, mein Lieber, mein Liebster, mein Allerliebster, mein innigst Geliebter, du, oh ...“
Das machte mich denn doch etwas verlegen.
„Wer“, stammelte ich, „wer ... wer bist du?“
Statt mir zu antworten, fasste sie mich im Nacken, zog meinen Kopf zu sich hin und küsste mich auf meinen lichten Scheitel. Eigentlich hätte ich jetzt einfach vor Wonne zergehen können, doch bei dieser Prozedur musste ich notgedrungen Kopf und Blick etwas senken, und meine Augen sahen hinab auf ihren bebenden, spärlich von weißem Linnen umwehten Busen.
„Bist du“, wagte ich zu fragen, „bist du B. B. oder bist du gar eine Reinkarnation der göttlichen M. M.?“
„M. M.“, lachte sie laut auf, „B. B., wie ordinär! Ich bin deine Muse, die Muse der verliebten Dichter, die Muse der Liebeslyrik, mein Junge. Ich bin - Erato!“
„Entschul ... entschuldige, Erat ... Erato“, stotterte ich schuldbewusst, „ich dachte ja nur wegen ...“ Ich schloss die Augen, um diese erratischen Blöcke nicht mehr anstarren zu müssen und sog stattdessen den Duft meiner Muse ein. Mir schwanden nahezu die Sinne, als sie meinen Kopf hochbog, mich auf die geschlossenen Augen küsste und eindringlich bat:
„Dichte, mein Dichter, Anakreon gleich, dichte, oh, dichte, oh, setze die Wörter. Oh ...“
Nun müssen Sie sich, lieber Leser oder liebe Leserin, meine Lage einmal plastisch vorstellen:
Da saß ich in einem antiken Theater, sozusagen in den Armen einer griechischen Muse gefangen, und sollte einfach aus dem Stegreif ein Gedicht aufsagen!
Zwar war ich des Schreibens durchaus nicht unkundig, hatte in meiner Jugend tatsächlich ein wenig Übung darin.
So hatte ich beispielsweise mit siebzehn Jahren eine Reportage über die Vorstandswahlen eines Imkervereines für die örtliche Zeitung geschrieben und als Student einen Börsenbericht für eine Zeitschrift der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Heidelberg verfasst. In einem Leserbrief hatte ich mich stilistisch geschliffen lobend über den Kommunarden Fritz Teufel verbreitet, und vor noch nicht allzu langer Zeit war es mir gelungen, in einer Fernsehsendung meine Geschicklichkeit im Schreiben meines eigenen Namens zu beweisen. Ich hatte es auf zweihundertvierunddreißig Unterschriften in Schönschrift gebracht, und das wohlgemerkt in nur einer einzigen Minute, womit ich sogar Wettkönig geworden war.
Aber ein lyrisches Gedicht, zumal ein Liebesgedicht, erschien mir trotz der geschilderten Erfolge jenseits meines sprachlichen und emotionalen Horizontes zu liegen.
Verbissen grübelte ich nach passenden Wörtern und wäre vielleicht fündig geworden, wenn nicht eine unvermutete Wendung Eratos eine neue Wendung in die ganze Angelegenheit gebracht hätte.
Erato nämlich wendete mir urplötzlich den Rücken zu und versuchte, sich auf meinen Schoß zu setzen.
Und jetzt ging alles blitzschnell:
Erato bedrängte mit ihren rückseitigen erratischen Blöcken meine während des ganzen Techtelmechtels wie angewurzelt thronende Katzenfreundin. Diese sprang auf, schlug ihre Krallen ins weiche Polster von Eratos Backside und dann erneut in meinen Oberschenkel. Erato schrie unmenschlich, ich riss die Augen auf und stöhnte vor Schmerz, und die Kätzin fauchte schaumspuckend und sprang mit einem Satz über mich hinweg ins nahe Gebüsch.
Was ich sah, war schlimm.
Erato war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Mein Stöhnen erreichte keines Menschen Ohr; denn niemand mehr war im Halbrund des Theaters zu sehen.
Durch den festen Stoff meiner Jeans quoll das Blut. Die Krallen mussten eine Vene erwischt haben. Es bildete sich an einer Stelle ein ertastbarer Bluterguss.
Doch das empfand ich nicht so schmerzhaft wie den nicht vorhersehbaren Verlust meiner Muse und das plötzliche Verschwinden meiner Kätzin.
Ich lagerte mich auf die linke Seite und beobachtete tastend, wie zwar der Blutstrom nachließ, aber sich neben den vom ersten Kratzangriff der Kätzin herrührenden noch andere kleine Hämatome bildeten, die sich, nachdem ich die Hand durch die kaputte Hosentasche an meinen Oberschenkel geführt hatte, ganz eigenartig anfühlten, so als sprössen weiche Borsten rundherum aus der gesunden Haut.
Eklig war das und ich zog rasch die Hand zurück.
Erschöpft stützte ich meinen linken Ellenbogen auf  und versuchte Überblick und Fassung zurückzugewinnen.
Da sich meine Kätzin wieder herangeschlichen hatte und sich nun mir gegenüber, dieses Mal  mit dem Kopf zu mir, lagerte, achtete ich, in dem Verlangen, sie zu streicheln, nicht weiter auf diese Vorgänge, deren Tragweite ich in diesem Moment keineswegs abschätzen konnte.
Es gelang mir, der Kätzin mit der Rechten das Haupt zu streicheln. Sie fühlte sich recht steif an, schnurrte auch keineswegs, verhielt sich überhaupt sehr reserviert und, obwohl liegend, eher wie von oben herab. All das bekräftigte sie mit einem langgedehnten „Miau“, als hätte sie noch nie in ihrem Leben auch nur ein Wort der menschlichen Sprache gesprochen.
Auch mir fiel es schwer, ein Wort herauszubekommen, und als ich den Mund öffnete, entschlüpfte mir nur ein französisch ausgesprochenes, klägliches „Miau“.
Nun meinen Sie, lieber Leser oder liebe Leserin, dass mich das geschockt haben musste. Doch das war nicht so. Es erschien mir sehr selbstverständlich, mich in der Sprache meiner Freundin auszudrücken. Mit Entzücken vernahm ich der Kätzin miauende Entgegnung und war von dem so vermittelten, zarten Liebesgeständnis der schönen Dreifarbigen so überrascht und überwältigt, dass ich, wie gesagt, vergaß, auf die seltsamen Veränderungen meines Körpers zu achten.
Wichtiger schienen mir meine inneren Veränderungen, die entstanden waren, weil mich Erato dreimal geküsst hatte: einmal auf meinen Scheitel und je einmal auf jedes meiner geschlossenen Augen. Ein Musenkuss auf meinen Mund hätte diesen möglicherweise für immer versiegelt. Gott sei Dank hatte Erato darauf verzichtet. Und so war es mir möglich, während ich aus meinen allzu weit gewordenen Kleidern herauszuschlüpfen begann, ein wunderbares Gedicht in der kätzischen Sprache ex tempore zu sprechen, in dieser Sprache, deren vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten allein in dem Wort „miau“ ich bis dahin kaum erahnt hatte - dieses „miau“, welches das höchste Entzücken und die tiefste Trauer genauso auszudrücken vermag wie die wildeste Sehnsucht und das heißeste Verlangen nach Liebe und Geborgenheit.
Ich bin sicher, dass unter Ihnen, liebe Leser und Leserinnen, etliche Kater und Kätzinnen sind, die des Kätzischen mächtig sind und die Feinheit und Klarheit meines Gedichtes wohl zu würdigen wissen.
Alle kursiv geschriebenen „miaus“ bedürfen der französischen Aussprache, was ungefähr wie „mio“ zu klingen hat.

  Miau, miau, miau, miau
  Miau, miau, miau -
  Miau, miau, miau, miau
  Miau, miau, miau -

  Miau, miau, miau, miau
  Miau, miau, miau -
  Miau, miau, miau, miau
  Miau, miau, miau -

Während ich dieses Gedicht rezitierte, schaffte ich es endgültig, meiner menschlichen Kleidung zu entsteigen. Ich schleckte mir den Staub und ein paar Fusseln vom glänzenden Fell, wobei ich bei den Vordertatzen begann und - freilich vorsichtig und der Blutergüsse wegen nur an der Oberfläche - schließlich bis zu meinem rechten Oberschenkel vordrang. Die Hämatome waren zwischenzeitlich zurückgegangen und nahezu unter dem dichten Schwarz meines Felles verschwunden.
Meine Kätzin schnurrte und wandte ihren Kopf schamhaft beiseite, um nicht beobachten zu müssen, wie ich mich nach alter Kater Sitte im hintersten Winkel meines Körpers sorgsam säuberte.
Auch meine Kätzin hatte nun begonnen, sich zu reinigen, und wir fanden ein kindisches Vergnügen darin, uns gegenüber zu sitzen und sozusagen synchron unsere Zungen über die vorderen Teile des Felles gleiten zu lassen, wobei mir auffiel, dass ich genau an den einem Spiegelbild entsprechenden Stellen dieselben Farbflecken aufzuweisen hatte wie meine Kätzin: Weiß entsprach Weiß und Orange entsprach Orange und bei uns beiden überwog übereinstimmend das Schwarz. Ich war quasi ein Spiegelklon meiner Kätzin geworden. Nicht ohne Eitelkeit allerdings muss ich hinzufügen, dass bei mir der Schädel mächtiger und mein Schwanz prächtiger war als bei meinem Gegenüber.
Entgegen dem dummen Gerede der Menschen dauerte unsere Katzenwäsche eine geraume Zeit, in der ich schon überlegen konnte, was sich mit meiner neuen Katernatur alles anfangen ließe, und ich schaute getrost in die Zukunft meiner neuen Existenz.
Es waren heitere Tage, die nun folgten. Wir trieben uns eher am Rande des Ruinengeländes herum. Meine Freundin zeigte mir alle relevanten Örtlichkeiten:
so zum Beispiel die wenigen immer noch funktionierenden Zisternen, aus denen wir im Durchschnitt nach jeder zehnten verspeisten Agame tranken, den Platz, an dem der Aufseher seine Essensreste für uns auslegte, und das geheime Lager in einem gut erhaltenen, unter wirr gestapelten Steinpatten verborgenen Sarkophag, wo wir unsere Schlafzeiten verbrachten und wo meine Kätzin einen von einem deutschen Archäologieprofessor vergessenen Laptop versteckt hielt. Darauf übte sie sich weiterhin im Schreiben und brachte auch mir bei, die Tastatur einzusetzen, um meine Erlebnisse festzuhalten, sowie den dazu gehörigen Akku an einer neben dem Hauptweg etwas versteckt sitzenden Steckdose aufzuladen.
An diesem elektronischen Schreibgerät, lieber Leser und liebe Leserin, sitze ich gerade.
Unser Lieblingsplatz freilich wurde hoch über dem Theater auf dem Güllük Dağı ein Felsen, den außer uns auch noch eine Bezoarziege für sich beanspruchte. Mit dieser kapriziösen  Wildziege hatten wir deshalb zuweilen ein paar Streitigkeiten. Doch seit ab und zu der verwöhnte Sohn eines deutschen Industriellen hier gegen harte Devisen jagen gehen durfte, ließ sie sich kaum noch sehen, und dieser Felsen gehörte sozusagen uns.
Dort pflegten wir nebeneinander zu ruhen, und ich konnte meine durch die Ereignisse unterbrochene Fragerei fortsetzen; denn so einiges Wissenswerte war noch längst nicht geklärt. Was meine Freundin mir hier erzählte, hielt ich getreu im Gedächtnis, bis ich es in unserem Lager dem Laptop anvertrauen konnte.

*

Sie, lieber Leser und liebe Leserin, wissen sicher sehr genau, welche Fragen noch offenstehen und werden entzückt sein, wenn ich nun den Faden wieder aufnehme.
Da war es doch beispielsweise um das berserkerhafte Benehmen der Türken des All-inklusive-Hotels gegangen!
„Wie, meine Liebe“, fragte ich meine Kätzin, „kannst du nun im Ernst zu deiner Meinung über die sprichwörtliche Grausamkeit der Türken gekommen sein?“
Ja, wir waren inzwischen so intim, dass das „du“ unausweichlich geworden war.
„Von hier oben“, antwortete meine Freundin, „sehe ich die Sache nicht mehr so eng wie damals dort unten. Mein türkischer Katerfreund, über den ich freilich jetzt, wo ich dich lieben gelernt habe, wiederum anders urteile als in den Augenblicken, in denen er mir seine poetischen Aufwartungen zu machen pflegte, übertrieb seine Sangesfreude vielleicht tatsächlich ein wenig. Mir schmeichelten damals seine Minnelieder. Den Bewohnern des Hotels dagegen raubten sie, wie gesagt, den Schlaf. Und da machten sich nun die Leute von der Security, wie bereits angedeutet, daran, meinen Kater zu vertreiben. Das stellten sie nach etlichen untauglichen anderweitigen Versuchen besonders infam an.
Es war um die zwölfte Stunde, Wolken und Vollmond zeichneten so recht ein Wackenrodersches Stimmungsbild an den  nächtlichen Himmel, mein Verehrer sang in den höchsten Tönen voller Liebreiz und  Künstlichkeit, da überfielen ihn von links und rechts die Tonschwaden des überlaut aus superstarken Boxen reproduzierten Beginns des dritten Satzes aus Gustav Mahlers 1. Symphonie. Es klang wie Jüngstes Gericht und Zusammenbruch der gesamten Katzenwelt, wie Höllenlärm und Kanonengebrüll, wie wiehernder Rosse Getrabe.
Da stürzte mein Kater in sich zusammen, kauerte zitternd am Boden, und es dauerte mehr als eine Schrecksekunde, bis er sich aufrappelte, in mächtigen Sätzen über den gepflegten Rasen des Hotels floh und gerade noch die Kurve kratzte, bevor er an den Maschendrahtzaun des Tennisplatzes zu krachen drohte.
Du kannst dir denken, mein Lieber, dass er von dem Moment an nicht mehr bereit war, auch nur eine Tatze in das Areal des Hotels zu setzen, und ich musste fortan Wege finden, ihn in dem nebenan liegenden Feriendorf zu treffen.“
„Irgendwie, meine Liebe, kommen mir doch Zweifel an deinen Ausführungen. Glaubst du wirklich, dass die türkische Security hinter diesem Anschlag hatte stecken können? Wie sollten diese Leute ausgerechnet auf Mahlers Erste gekommen sein. Zwar muss ich zugeben, dass die Wahl dieses Symphonieausschnittes vorzüglich war, zumal für diesen Zweck des Erschreckens, doch wie gesagt ...“
„Nun ja“, fiel mir meine Kätzin ins Wort, „die technische Ausführung oblag schon den türkischen Security-Leuten. Wer den Plan ausgeheckt hatte, erfuhr ich eines Tages, als ich beim Frühstück unter dem Tisch einer dicken, pensionierten, spanischen Operndiva saß. Sie hatte einen jungen deutschen Kapellmeister als Gespielen dabei. Er hatte sich bei seinen nächtlichen Duetten mit dieser geübten Künstlerin durch das Miauen meines Galans gestört gefühlt und der Hotelleitung diesen, seinen Vorschlag unterbreitet. Das Management des Hotels hatte sich daraufhin die CD mit Mahlers Symphonie von dem Kapellmeister ausgeliehen, im Geheimen angehört und war einstimmig zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Musik die zu dem anvisierten Zweck richtige ‚Katzenmusik‘ sei.“
„Gesagt, getan und mit Erfolg vollzogen, war es wieder einmal eine türkisch-deutsche Zusammenarbeit in Sachen antifelidaler Machenschaften!“, brachte ich aufgebracht hervor.
„Wenn du es so sehen willst, so grundsätzlich und so politisch, dann bitte sehr, es ist deine Meinung“, entgegnete die Kätzin spitz und schien froh, dass sie diese Ansicht, die ja in Wirklichkeit auch ihre war, nicht hatte formulieren müssen.

*

Lieber Leser und liebe Leserin, sicher schätze ich Sie richtig ein, wenn ich annehme, dass Sie keinerlei intime Nachrichten über meine anstrengende Liebschaft mit dieser wunderschönen dreifarbigen Katze lesen wollen. Vielleicht reicht es, wenn ich Ihnen berichte, oft genug froh gewesen zu sein, einfach so mit ihr auf unserem Güllük-Dağı-Felsen zu verweilen, in die Landschaft hinauszublicken und mir ein wenig von ihr erzählen zu lassen. Nach einiger Zeit war es gar nicht mehr nötig Fragen zu stellen, da es aus meiner Freundin nur so heraussprudelte:
- wie sie sich immer zu ihrem Kater in das Feriendorf geschlichen habe,
- wie sie ihre Kontakte zu dem von seiner Mutter wegen der neureichen Russen und wegen einiger blutjunger Türken vernachlässigten Multikultimädchen gepflegt habe,
- wie sie von ihrem Kater den Strand entlang bis zu einer fast gänzlich zerborstenen Felsenhöhle mit spärlichen Wandmalereien geführt worden sei, auf denen angeblich ihres Galans Abstammung von den frühesten Katzen der kleinasiatischen Halbinsel dokumentiert sein sollte,
- wie er sie dann nicht mehr zurück ins Feriendorf, sondern hinauf in die Berge in ein Dorf  inmitten des Olymposnationalparkes gebracht habe,
- wie er ihr ewige Treue geschworen habe, aber nach nicht einmal drei Wochen plötzlich erklärt habe, er müsse zu seiner Familie zurück, diese sei mit einer Verbindung seinerseits mit einer Deutschen überhaupt nicht einverstanden,
- wie er behauptet habe, dass ihm deswegen das Herz blute und dass er sie bitte, in diesem Bergdorf auf ihn zu warten, bis er ganz sicher wieder zurückkomme, hätte er nur erst mit seiner Familie gesprochen,
- wie sie den ganzen Treueschwindel zunächst geglaubt habe,
- wie sie sich aber schließlich voller Zorn und Trauer habe eingestehen müssen, dass sie  einem Hallodri aufgesessen sein musste,
- wie er sich dann tatsächlich nicht mehr habe blicken lassen,
- wie sie dann lange Zeit ziel- und planlos in der Gegend herumvagabundiert sei,
- wie sie schließlich von der bereits genannten Deutschen aufgelesen und direkt in das ihr längst schon bekannte Feriendorf zurückgebracht gebracht worden sei, wo weder von ihrem Katergalan noch von den ehedem bekannten Touristen auch nur mehr eine Spur zu finden gewesen sei.
Bei diesem letzten Bericht maunzte sie bitterlich und schmiegte sich hilfesuchend an mich, sodass ich ganz weich wurde und sagte:
„Meine geliebte Schnurrerin, bisher hatte ich insgeheim immer gehofft, wieder zum Menschen zu werden, doch jetzt weiß ich, dass die wenigen mir noch verbleibenden Jahre bestimmt sein werden von meinem Verlangen, dich ganz, ganz glücklich zu machen.“
Dass mir von den halsbrecherischen Bergsteigereien herauf auf unseren Felsen ordentlich die Knie wehtaten, dass ich nicht nur der schönen Aussicht wegen auf dem Weg herauf immer wieder stehen geblieben war, sagte ich kein Wort. Wahrscheinlich ist mir selbst das alles auch erst viel später ins Bewusstsein gekommen.
Zu dieser Erkenntnis verhalf mir das Schicksal in Gestalt eines aristokratischen Van-Katers, der eines Tages eigenartigerweise zusammen mit einem etwas ländlich wirkenden Kangal, einem türkischen Hirtenhund, in Termessos auftauchte.
Von da an war alles anders, wie Sie sich, lieber Leser, und Sie, liebe Leserin, sicher unschwer vorstellen können.

*

Jeder halbwegs vernünftige Mensch - auch wenn er zum Tier geworden ist, muss wohl annehmen, dass besagter Kangal und besagter Van-Kater sich wie Hund und Katz oder wie Katz und Maus benommen hätten. Doch damit liegt er daneben, so wie ich, der ich ja gerade neben meiner geliebten Kätzin gelegen war, als mir die beiden erstmals unter die Augen gerieten.
Wir waren wieder einmal dabei, den Ausblick vom Theater zu genießen, als ich ein verdächtiges Hecheln hörte und kurz darauf diesen riesigen, falben Hund erspähte. Mir stellten sich instinktiv die Nackenhaare, und ich hatte meiner Lebensgefährtin kaum ein „Vorsicht, Vorsicht“ zugemaunzt, da stand er schon vor uns und zwang uns, fauchend und buckelnd eine Show abzuziehen. Sprungbereit und kratzwillig gerierten wir uns, da vernahmen wir einen meine Geliebte bannenden, kaum melodisch zu nennenden Katergesang. Sie blieb sekundenlang wie angewurzelt in dieser angespannten Haltung stehen, ließ sich von mir nicht mehr ansprechen, legte sich dann auf die Seite, drehte ihren Rumpf, warf sich hin und her, begann zu schnurren und leckte schließlich doch glatt ihre Vorderbeine und Vorderpfoten, so wie sie es immer in der höchsten Verzückung unserer Liebe getan hatte.
Der Kangal ließ ein erstauntes „Wuff“ hören und zog sich ein wenig zurück, dem nun auftretenden Van-Kater Platz machend.
Dieser zeigte seine ganze, imponierende Breitseite, legte die Ohren nach hinten und fauchte zärtlich.
Ja, das war wirklich ein zärtliches Fauchen und es übte eine katastrophale Wirkung auf mich aus. Ich konnte nicht anders, als quasi in vorsichtiger Zeitlupe mich abzudrehen und mich mit einem riesigen Satz, der mir bei der Landung in allen meinen alten Knochen wehtat, zu verabschieden.
Mit bebenden Flanken kauerte ich mich unter ein Eichengestrüpp und legte mir die Situation zurecht.
Dieser grässliche, ziemlich langhaarige, weiße, mit einem roten Schwanz und roten Ohrenspitzen versehene Kater schien mir in einem jugendlichen Alter zu stehen.
Offensichtlich hatte ihm das gereicht, meine neue und zugleich wohl nunmehr alte Freundin in Bann schlagen zu können. Ich hätte es mit ihm ja vielleicht aufgenommen, da ich mich ihm trotz körperlicher Unterlegenheit geistig weit überlegen fühlte, aber da war ja dieser großmächtige Kangal. Ihn - und das kriegte ich durch spätere Beobachtungen heraus - hatte dieser Van-Kater doch tatsächlich als treuen Vasallen und Beschützer abgerichtet, dieses Hundes genetisch verankerten Beschützerinstinkt schamlos ausnützend!
Sobald ich mich unbeachtet fühlte, kletterte ich auf den Güllük Dağı hinauf, legte mich platt auf den Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, bekannten Beobachtungfelsen und spähte hinab zum Theater, in dem ich diese drei Kreaturen immer wieder sich tummeln sah, wenn dort die Bahn für sie frei war.
Der weite Abstand, den ich zu dem Trio einhielt, ermöglichte es mir nicht, die Gespräche zu vernehmen; ich musste mich mit der Gestik der Dreierbande begnügen, und die sprach Bände.
Zunächst war ich empört, weil dieser Kangal bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit den Schwanz hin und her bewegte, gilt das doch bei uns Katern als Ausdruck aggressiver Gespanntheit. Ich musste mich sehr zwingen, mich meines ehemaligen Menschseins zu erinnern, und mir kam wieder in den Sinn, erfahren zu haben, dass Hunde aus purer Freude mit dem Schwanz wedeln. Andererseits hätte es ja leicht geschehen können, dass dieser Kangal die hoch aufgerichteten Schwänze meiner untreuen Freundin und ihres lächerlich jungen Galans als Zeichen eines angeberischen Dominanzverhaltens bewertet hätte und sie beide als unangemessene Konkurrenz abgewehrt oder sogar angegriffen hätte.
Doch mir schien, dass der Van-Kater und der Kangal die jeweilige Fremdsprache der Gesten fließend beherrschten.
Es bedurfte oft nur des gekrümmten Rückens dieses Van-Katers, und schon durchstreifte der Kangal das Theater, die angrenzenden, von Büschen bestandenen Ruinen und die abzweigenden Wege in immer größeren Kreisen. Offensichtlich hatte er die Aufgabe, nach mir zu suchen und mir etwas anzutun. Doch ich thronte weiterhin auf meiner Bergspitze und wagte mich nur in der Nacht hinab.
Immer noch sehnsüchtig umschlich ich in weitem Bogen den Sarkophag, den ich mit meiner Verflossenen bewohnt hatte, wagte mich aber des Kangals wegen nicht einmal auf Hörweite heran.
Sie, lieber Leser und liebe Leserin, können sich ausmalen wie mir stets zumute war, zumal ich auch nicht mehr an den Laptop heran kam, und in meinem Liebesschmerz mir kaum merken konnte, was alles des Aufschreibens Würdiges geschehen war.

*

So vergingen Tage und vermutlich auch Wochen wie im Traum, wie in einem Albtraum natürlich. Ich magerte immer mehr ab, denn auf meiner Bergesspitze lebten weitaus weniger fette Agamen als drunten im Theater.
Doch eines Tages kam das Schicksal in Form eines Hundefängers. Ob er, wie ich es vermutete, von einer staatlichen Stelle kam oder ob er sein Tun gewerblich ausübte oder aus purer Lust, vermag ich nicht zu beurteilen. Es war mir auch gänzlich egal, erfüllte der Gute doch seinen Zweck. Ich vernahm ein Bellen und Jaulen und Schreien und Fluchen, eilte auf meinen Beobachtungsfelsen und sah gerade noch, wie ein Mann mit einem Sack auf dem Rücken den Weg hinab zum Parkplatz eilte. Kurz darauf übertönte das Brummen eines Kleinlastermotors das Jaulen des Kangals. Es dauerte nicht lange und ich spürte beklommen die neue Stille auf dem Ruinengelände.
Tagelang hörte und sah ich von den beiden Ungetreuen nichts. So wagte ich mich hinab ins Theater. Ganz in der Ferne hörte ich ein kleinlautes, zweistimmiges Miauen, das sich immer weiter entfernte und bald nicht mehr vom Pfeifen des Windes zu unterscheiden war.
Tagelang saß ich morgens und abends, immer wenn die Touristen noch nicht da oder nicht mehr da waren, auf den billigen Rängen des Theaters und glotzte in die Gegend.
Kamen die Touristen, dann zog ich mich in den Sarkophag zurück und tippte an meinen Erinnerungen weiter.
Auch jetzt gerade sitze ich am Laptop und schreibe.
Dieses Mal aber mit heiterem Gemüte; denn es hat sich Unerwartetes zugetragen.

*

Hin- und hergerissen zwischen der Trauer um die einstige Geliebte und der Zufriedenheit ob meiner neuen Unabhängigkeit, hatte ich zwar immer wieder gelauscht, ob nicht doch ein zaghaftes Maunzen an mein Ohr gelänge, aber gleichzeitig alle Ambitionen, jemals wieder zu lieben, in den Wind geschrieben, war ich doch ein ältlicher Kater, dem das Alleinsein durchaus bekömmlich erschien.
So verbrachte ich den restlichen Sommer alleine und konnte den Herbst reichlich genießen; denn von Tag zu Tag wurden die den Frieden von Termessos störenden Touristen und einheimischen Besucher immer spärlicher, ja es kamen Tage, an denen sich niemand hier herauf verirrte.
An solchen Tagen hatte ich ganz Termessos für mich!
Und doch war es öde, ganz alleine zwischen Steinschmätzern und Agamen zu leben, ohne Ansprache, ohne eine andere Katze zu sehen oder gar zu fühlen. Die Ahnung einer fürchterlichen Einsamkeit hatte mich am Wickel.
Eine herumstreunende Katze hätte mich meist im Theater oder in meiner Schreibhöhle finden können. Weitere Ausflüge reizten mich kaum mehr.
Schon neigte sich der  Oktober dem Ende zu.
Eines Tages wollte ich gerade das Theater verlassen und doch wieder einmal den beschwerlichen Weg auf den Güllük Dağı hinauf beschreiten, da hörte ich eine helle Frauenstimme, die ein Lied sang.
Stellen Sie sich vor, lieber Leser und liebe Leserin, Sie hörten am frühen Nachmittag eines späten Oktobertages eine Frau im Theater von Termessos singen, ein Lied singen, ein Kinderlied singen, ein deutsches Kinderlied singen.
Wären Sie nicht auch wie ich in höchstem Maße erstaunt?
Sang sie doch vom ABC und davon, dass die Katze im Schnee lief, und das jetzt im sonnigen Oktober am Nachmittag bei 24°C!
Die Frau saß auf den billigen Rängen des Theaters, genau mir gegenüber.
Sie war eine junge, blonde Schönheit, auf die jeder türkische Mann sofort geflogen wäre. Ich muss gestehen, dass ich bei ihrem Anblick beinahe vergessen hatte, kein Mensch mehr, sondern ein Kater zu sein.
Ich hielt sie fest im Blick, während ich mich sachte an sie heran machte und um sie herum schlich.
Ich streifte ihren Rücken, schlüpfte unter ihrem linken Arm hindurch, querte ihren Schoß und ließ mich auf ihrem rechten Oberschenkel nieder. Lässig baumelte mein rechtes Vorderbein hinab. Wie eine laszive Sphinx blickte ich mit ihr nach vorne in die weite Landschaft und schnurrte. Ich hatte von ihr Besitz ergriffen.
„Merhaba, geliebter Kater, vieler kleiner Katzen Vater“, reimte sie mit kindlichem Gemüt und war, lieber Leser und liebe Leserin, höchst erstaunt, als ich in reinstem Hochdeutsch sagte:
„Meine Dame, wie sollte ich, der ich einsam hier oben in den Bergen wohne, Vater vieler junger Katzen sein. Dazu bedürfte es einer Verbindung meinerseits mit einer veritablen Kätzin, was“, und dabei fuhr ich meine scharfen Krallen aus, durchbrach das leichte Kleidchen der Schönen und zog meine Krallen  über ihren Oberschenkel, „was nach meinen Erfahrungen in absehbarer Zeit der Fall sein dürfte.“
Als ich nun wieder zu schnurren begann und das hinabrinnende Blut meiner Schönen roch, und meine Freundin ganz ähnliche Geräusche von sich gab wie ich, wusste ich, dass es das Schicksal gut mit mir meinte, und meine befürchtete Einsamkeit auf den Höhen von Termessos auf unabsehbare Zeit der Vergangenheit angehören würde.


© Guntram Erbe 2016