Die brasilianische Verwandtschaft


Ich heiße nicht nur Gerngroß, ich bin es auch, so knappe zwei Meter rage ich auf. Jedenfalls bin ich eigentlich zu groß für den Operationstisch, auf dem ich lag. Es war ein wenig dumm, dass es um mein linkes Sprunggelenk ging; denn dadurch musste dieses auf dem Tisch liegen, und mein Kopf hing etwas über. Krampfhaft hob ich ihn, um zu sehen, was mit mir geschehen sollte.

Eine Türe ging auf, und herein schwebte eine junge Frau mit spitzer Nase und aufregend geschwungenen Hüften. Sie stellte sich als meine Anästhesieschwester vor und nannte ihren Namen.
Zum Glück hatte ich die mir offerierten Beruhigungspillen im Krankenzimmer unter das Bett rollen lassen. So war ich nun hellwach und verifizierte sofort, dass diese junge Frau einen Nachnamen trug, der auch der Mädchenname meiner Großmutter gewesen war. Ein echt altdeutscher Name, der die Junge und die Alte miteinander verbindet.
Es ergab sich ein Gespräch, das mir offenbarte, dass wir, diese Anästhesieschwester und ich, tatsächlich miteinander verwandt sind, sie freilich nur angeheiratet, eine angeheiratete Nichte. Gerne hätte ich den Plausch weitergeführt, doch die Gute hatte die mich betreffenden Vorbereitungen abgeschlossen, der Anästhesiearzt trat hinzu, mir wurde auf einmal schummrig, und meine Großmutter trat aus den Farbkreisen hervor, die sich vor mir drehten.

„Glotze mich nicht so an“, polterte sie los, „immerhin hast du mich erkannt, obwohl du noch nicht geboren warst, als ich starb.“
„Tut mir leid“, wollte ich sagen, ohne zu wissen, was mir eigentlich leidtat, doch ich kam nur dreimal bis zum „tut“, weil Großmutter mir jedes Mal über den Mund fuhr.
„Tut …“
„Auch dein Urgroßvater spielte gerne mit der Eisenbahn.“
„Tut …“
„Spur 00 übrigens.“
„Tut …“
„Doch sein ‚tut‘ klang echter und überzeugender als dein schüchternes ‚tut‘.“
Ich gab es auf, um Entschuldigung zu bitten, und ergab mich der illustren Verwandtschaft, die mit einem Mal den Operationssaal bevölkerte.

Dort hinten saß einer auf einem Maultier. Wie ein Cowboy sah er nicht aus, vielleicht wie ein Gaucho.
„Hey!“, rief ich ihm zu.
„Bom dia, senhor!“, rief er zurück und zog seinen breitkrempigen Hut, und sein Maultier grinste dazu. Zum Gruß hob es kokett den linken Vorderhuf, der Reiter die rechte Hand, wobei er den Zügel keineswegs losließ.
Warum die Versammlung rundum lachte, erschloss sich mir nicht.
Wahrscheinlich schaute ich recht dümmlich aus der Wäsche, als sie in eigenartigem Singsang ein zweistimmiges Liedchen anstimmte, dessen knappen Text ich durchaus verstand:
“Nós somos sua família brasileira, brasileira, brasileira.”
Bis dahin hatte ich allerdings nicht gedacht, des Brasilianischen mächtig zu sein.

Aus einem hinteren Gedächtnisstübchen meines Gehirns kramte ich eine Erinnerung hervor. Meine Mutter pflegte ihren jüngeren Onkel mütterlicherseits, diesen Gaucho also, als „brasilianischen Hutfetischisten“ zu bezeichnen und im gleichen Atemzug den älteren Onkel als „charmanten Grandseigneur alter Schule“. War sie von diesem Charmeur irgendwie um den Finger gewickelt worden?
Hier im Operationssaal konnte ich ihn nicht entdecken. Wahrscheinlich kutschierte ihn sein Chauffeur gerade aus der DDR herüber. Wie immer wird er unzählige Stangen des von ihm produzierten Nougat mitbringen, dieses teuflisch süße Zeug.

Auf dem Monitor neben dem Operationstisch tauchte mein Urgroßvater auf. Er hatte die ganze Sache in Gang gebracht. Zweimal war er verheiratet und hatte mindestens dreizehn Kinder gezeugt.
„Vertragt euch“, skandierte er bedeutungsschwanger, „ihr alle untereinander, auch mit den Nachkommen meiner ersten Ehe. Wehe, wenn das nicht gelingt!“

Ringsum stöhnten die Brasilianer, dazu brauchten sie kein Brasilianisch und kein Deutsch, das Stöhnen ist interkulturell kodiert.
Auch ich stöhnte, zumal als eine stöhnende alte Dame auf mich eindrang und mir klarmachte, ich müsse für jedes leichtsinnig gesprochene brasilianische Wort eine Münze in das von ihr hingehaltene Rokokodöschen werfen, schließlich seien sie deutsche Brasilianer, deutscher als deutsch sozusagen.
Da wieherte das Maultier, und sein Reiter zeigte mit dem rechten Zeigfinger auf die alte Dame und sagte so nebenher:
„Wer hätte je gedacht, dass aus meinem kleinen Töchterchen so eine dominante Patiententante werden würde.“

Patiententante? Das ging wohl mich an. Ich richtete mich unter dem Protest meiner Anästhesieschwesternnichte auf und gebot Ruhe. Es müsse vollkommene Stille herrschen, wenn der Operateur erscheine, andernfalls – und dazu nickte die Nichte eifrig – andernfalls müsse der Eingriff sicher verschoben werden.

Inzwischen hatte die alte Dame ihre gesamte brasilianische Brut um sich versammelt und rief dem Gaucho zu, er solle sich heraushalten, schließlich habe sie zusammen mit ihren Brüdern dafür gesorgt, dass er reichlich Nachkommen habe, die sich sehen lassen könnten. Und fotografieren!
Der Anästhesiearzt zückte seine Digitalkamera, knipste erst einmal die jetzt aufgereihte Sippe der alten Dame und hieß sie dann alle, sich um mich zu gruppieren. Im Hintergrund, alle überragend, kam der Gaucho auf seinem Maultier zu stehen, und der Monitor wurde so gedreht, dass auch der Urgroßvater dabei sein konnte.
Es war nun mucksmäuschenstill. Nur mein Magen knurrte; denn ich war ja seit dem gestrigen Abend nüchtern gehalten worden.
Und von draußen hörte man das Motorengeräusch eines Wartburgs. War der Grandseigneur tatsächlich auch angerückt.
Schon stürmte er herein und verteilte seine Nougatstangen.
 
„Das war’s dann ja wohl“, sagte der hinzugetretene Operateur und blickte die nougatschnabulierende Gesellschaft missbilligend an, und ich fiel in Ohnmacht. Oder war ich vielleicht sowieso schon in Ohnmacht? Jedenfalls fühlte ich mich beim Aufwachen ohnmächtig, richtiggehend zerschmettert.

Irgendjemand hatte den Fernseher angemacht. Er lief ohne Ton und ohne Farbe und zeigte Szenen aus dem Leben der aus erster Ehe meines Urgroßvaters stammenden Verwandtschaft. Mir verwirrten sich die Sinne, ich konnte gerade mal Männchen und Weibchen unterscheiden, nicht aber die einzelnen, mir bis dahin unbekannten Verwandten. Sie rückten zusammen. Jeder hielt demonstrativ einen Löffel der Marke „Ideal“ aus der von meinem Urgroßvater gegründeten Metallwarenfabrik in der Rechten. Sie plärrten durcheinander. Doch ich konnte zumindest einen wieder und wieder herausgeschrienen Satz erkennen:
„Wir sind die Echten, nicht diese Brasilianer und nicht die Patientensippe.“
Da ergriff mich eine ungeheure Wut. Ich riss eine Infusionsflasche vom Halter herab und schleuderte sie auf den Bildschirm, traf ihn aber nicht, und die rosa eingefärbte Brühe lief die Wand hinab.

Dass nun meine Schwestern und meine Mutter televisionär zu sehen waren, beruhigte mich. Meine älteste Schwester beugte sich über mich, wischte mir den Schweiß von der Stirne und fragte mich, ob ich das Gefühl hätte, die Operation gut überstanden zu haben.
„Das schon“, versicherte ich, „aber diese nougatfressende brasilianische Verwandtschaft ist mir ganz schön auf die Nerven gegangen.“
Meine Schwester setzte eine fragende Miene auf, doch ich verzichtete darauf, dieser nüchternen Person von meinem Zusammentreffen mit dieser aufdringlichen Bande zu erzählen.
 
Ich wendete den Kopf zur Seite und wiegte mich mit der Melodie der Brasilianer in den wohlverdienten Schlaf, wobei ich den Text nach außen hin unterdrückte und ihn mir nur innerlich vorsang:
“Nós somos sua família brasileira, brasileira, brasileira.”